Dienstag, 30. September 2008

k e i n t i t e l

Heute will ich niemandem mehr begegnen.
Der Weg zum Krankenhaus ist steil und glitschig. Das eisige Laternenlicht und der kalte Niesel machen mich endgültig wach.
Das erste Lebewesen, was ich sehe, ist ein Kaninchen. Mit seinem weißen Fell hebt es sich von der Wiese ab, die noch die Nacht bedeckt.
Kaninchen ade. Links einbiegen, Treppe hoch.
Die Glastür ist schon aufgeschlossen worden. Ich schlüpfe ins warme Treppenhaus. Zwei Treppen tiefer bin ich im Keller angelangt. Oben fällt die Glastür klickend ins Schloss. Hier unten ist dieser lange, schmale Gang, den entlang ich muss. Hier könnte ich den ersten Menschen begegnen. Kleine Frauen in blassgrüne Kittel gekleidet, mit Gummihauben auf dem Kopf. Sie schieben Eisenwägen durch die neonbeleuchteten Krankenhausflure. Mit ihren kleinen Rädern rattern diese riesigen Wägen entsetzlich laut, und ich renne. Aber unaunffällig. Sähe mich jemand, er müsste sich doch fragen, ob ich verrückt sei. V E R r ück t. Der Gang hat ein Ende. Ein neuer, breiterer Flur beginnt. Die ersten Krankenschwestern sehe ich, und ich sehe in einiger Entfernung einen Bauch.
Eine Schwangere.
Mein Bauch ist flacher.
Die Krankenschwestern kenne ich, denn bei denen war ich schon auf Station. Welche verschwinden hinter einer unauffälligen Tür, andere streben auf den Fahrstuhl zu, der sie zur Gynäkologie oder zur Neugeborenenabteilung bringt. Ob sie mich bemerken? Ich bleibe wachsam, jederzeit bereit zu grüßen. Nein, sie kennen mich nicht mehr, scheinen sich nicht mehr an mich zu erinnern. Wie gut. Ich nähere mich dem Bauch. Der ist von einem roten Frotteebademantel umhüllt. Haarige Beine mit Füßen stecken in Gesundheitslatschen. Ich hebe den Kopf, will das Gesicht der Schwangeren entdecken, um ihr dann ein sympathiebekundendes Lächeln zu schenken. Jetzt werde ich gleich Blickkontakt haben, denn sie wendet den Kopf. Sie ist ein Mann. Zu meinem Glück hat er mich nicht lächeln sehen. Er hat mich gar nicht angesehen.
Ich komme aus dem Tritt. Wohin mich wenden? Um die Ecke links ist der Schokoladenautomat. Unauffällig krame ich mit der rechten Hand in meiner Jackentasche nach Geldstücken, befühle sie und biege ab. Der Automat schluckt die Mark und den Fünfziger, es gibt ein Geräusch und meine Lieblingsschokolade fällt in das Ausgabefach. Das letzte Wegstück zur Station wird süßer, aber nicht weniger qualvoll als das Aufstehen um fünf Uhr früh. Ich passiere die große Eingangshalle des Hauses. Bloß nicht hinschauen, wer da alles durch die automatisch sich öffnenden Türen kommt. Ich muss zum Fahrstuhl. Von dort entgegen läuft mir Schwester Petra, die Stationsschwester der H62, wo mir dauernd übel wurde. Jeder auf der H62 rätselte, wieso. Hoffentlich sieht sie nicht hin, wie dick ich schon bin. Ich will nicht, dass sie anfängt, über mich nachzudenken. Immerhin bin ich nicht so jung, wie alle meinen. Sie sieht auf und grüßt flüchtig. Geschafft. Der Fahrstuhl steht bereit. Ich tue einen großen Schritt hinein, schon schließen sich die Türen hinter mir. Ich bin allein. Rasch drücke ich die große quadratische Taste für die vierte Ebene. Der Fahrstuhl bewegt sich. Kaninchen ade.
Ein wenig beleuchteter, muffiger Stationsflur empfängt mich. An den Wänden abwaschbare, hellrosafarbene Tapeten, weiße Plastikgeländer für die alten Frauen und rollstuhlgerechte, große Türen mit dicken Plastiktürklinken. Im Gang vor Zimmer 02 steht der Wäschewagen. Das grüne Licht über der Tür leuchtet. Die Nachtschwester wird drinnen sein. Ich muss die Begegnung mit ihr so weit wie möglich hinauszögern. Im hinteren Stationszimmer ist Licht. Von der Wand nehme ich meinen Spindschlüssel. Den Spind teile ich mit einer anderen Schülerin. An sie binde ich noch immer die Hoffnung auf ein erwärmendes Gespräch. Schnelle Schritte kommen über den Flur, Wasser rauscht im Vorraum, ich höre das Quietschen der Steriliumbox. Ich halte mich am Spindschlüssel fest und trete aus dem Stationszimmer in den Vorraum hinaus. Die Nachtschwester steht am Medikamententisch, den Rücken mir zugewandt. Jetzt muss ich was sagen. "Hallo", sage ich. Sie fährt erschrocken zusammen. Das hatte ich geahnt. Sie war ja die ganze Nacht ohne einen Menschen (die Kranken zählen nicht). Sie dreht sich zu mir um, erkennt mich - "Ich zieh' mich schnell um.", komme ich ihr zuvor.

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