Sonntag, 30. November 2008

(2) Jacobys Konzept einer Musikerziehung

Dieser Beitrag knüpft an Heinrich Jacoby - Die Existenz des Schöpferischen

Die Grundannahme, die Jacoby mit vielen Zeitgenossen teilt – 1925 fand in Heidelberg die III. internationale Pädagogische Konferenz genau zu diesem Thema, „Die Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde“, statt –, ist, dass im Menschen schöpferische Kräfte angelegt seien, und zwar alle zum Leben notwendigen. In diesen schöpferischen Kräften liege das ganze Potential des Menschen, das es zu entfalten gelte. Denn die menschliche Existenz baue auf
diesem Potential auf.

Jacoby schlussfolgert daraus für die Erziehung, dass sie alles daran setzen müsse, die Vorraussetzungen zu schaffen, die für eine ungehinderte Entfaltung jener schöpferischen Kräfte notwendig sind. Dies gelte auch für die Musikerziehung. Die Existenz des Schöpferischen in jedem Menschen bedeutet für Jacoby, dass jeder Mensch grundsätzlich dazu befähigt ist, sich musikalisch auszudrücken. Die sogenannte Unmusikalität, die vielen Menschen zugesprochen wird oder die sie sich selbst bescheinigen, gibt es in Wirklichkeit nicht.

Ich habe in den letzten acht Jahren mit etwa 700 Menschen verschiedener Altersstufen [...] gearbeitet [...] Obgleich sich von diesen etwa 80 Prozent zu den sogenannten Unmusikalischen gerechnet hatten, hat sich eine erfolgreiche Zusammenarbeit nur bei zweien als aussichtslos
herausgestellt, bei denen die Fähigkeit, hohe bzw. tiefe Töne überhaupt wahrzunehmen, durch organische Erkrankung des Gehörapparates gestört war. (Jacoby 1921, S.14)

Dass Menschen als „unmusikalisch“ erscheinen, führt Jacoby darauf zurück, dass man ihnen die Freiheit des Ausdrucks schon in der frühen Kindheit systematisch beschneidet. Jacoby kritisiert das repressive Erziehungskonzept seiner Zeit, das eine „[...] Verschüchterung und Unterdrückung des Ausdrucksbedürfnisses [...] in der Musik oft in noch höherem Maße als auf anderen Ausdrucksgebieten“ bewirke (Jacoby 1924, S.44). Die „[...] Gesellschaft züchtet den gehemmten Menschen als Typus.“ (ebenda) Die Ausdruckshemmung wirkt sich nach Jacobys
Meinung auf dem Gebiet der Musik nur deshalb so nachhaltig aus, weil keine Lebensnotwendigkeit zu musizieren besteht. Nun ist aber die Entfaltung musikalischer Fähigkeiten für Jacoby gleichbedeutend mit der Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen oder leistet zumindest zur optimalen Entwicklung seiner Persönlichkeit einen bedeutenden Beitrag. An die (wiedergewonnene) Möglichkeit der musikalischen Äußerung knüpft Jacoby das Vertrauen eines Menschen zu seiner eigenen Äußerungsfähigkeit, die wiederum, so sie sich
entfalten kann, eine große Bedeutung für die Entwicklung des Selbstvertrauens hat.

Wenn wir uns gegenwärtig halten, dass Mangel an Selbstvertrauen vielleicht die häufigste Ursache dafür ist, dass jemand unmusikalisch oder sich dafür hält, so leuchtet ein, dass die Stärkung des Selbstvertrauens, die durch das Erlebnis des Sich-äußern-Könnens entsteht – während man sich bisher für stumm gehalten hat – für das allgemeine Verhalten sehr viel
bedeutet. (Jacoby 1921, S.16)

Stellt sich erst einmal das Problem, dass man es mit einem „musikalisch ‚Gehemmten’“ (Jacoby) zu tun hat, so ist das für Jacoby „[...] eine Frage psychischer wie musik-pädagogischer oder musik-psychologischer Therapie.“ (Jacoby 1921, S.16) Allgemein geht es in der musikalischen Erziehung für Jacoby darum, dem Kind Erfahrungs-Gelegenheiten (Jacoby) zu schaffen. Die
Einwirkung des Erziehers auf das Kind soll sich im Wesentlichen darauf beschränken, denn das oberste Gesetz in der musikpädagogischen Arbeit wie in der allgemeinen Erziehung ist nach Jacoby die Selbsttätigkeit des Menschen (vgl. Jacoby 1921, S.10-11). Die Erziehung, in der „[...] allein das in jedem Menschen latente Schöpferische angesprochen wird.“ (Jacoby 1921, S.10) bezeichnet Jacoby auch als „schöpferische Erziehung“ (ebenda).

Allerdings hat man in der Erziehung nicht danach zu fragen, ob die Äußerungen, die man erleichtern will, bedeutend oder unbedeutend, ob sie für irgendeinen anderen außer dem Sich-Äußernden von Wert sein werden! In der Erziehung hat man sich nicht von schwankenden subjektiven Werturteilen, von von außen kommenden Zwecksetzungen
abhängig zu machen, sondern allein die Voraussetzungen, unter denen die in allen Menschen vorhandenen schöpferischen Fähigkeiten zu möglichst unbehinderter Auswirkung kommen können, zu schaffen. (Jacoby 1921, S.16)

Erziehung – auch die musikalische – muss sich selbst beschränken, statt den Zögling zu beschränken, und zwar auf das Schaffen von Voraussetzungen für eine Entwicklung, statt dass sie auf die Entwicklung einwirken und gar in eine bestimmte Richtung lenken will. Mehr als einmal stellt Jacoby den Vergleich mit dem Erlernen der Muttersprache an. Um deutlich zu machen, was es für die musikalische Erziehung heißen könnte, sich nicht von äußeren Zwecken leiten zu lassen, mag solch ein Vergleich sehr hilfreich sein. So werde beim Spracherwerb
auch nicht Dichtung oder dramatische Rezitation als Ziel gesetzt. Mit Ton, Rhythmus, Linie und Farbe müsse ähnlich verfahren werden. „Es geht bei all dem um elementare, allgemein menschliche Ausdrucksgebiete, auf denen grundsätzlich jeder zu ähnlichen unmittelbaren und selbstverständlichen Äußerungen gelangen könnte wie etwa beim Gebrauch der Muttersprache [...]“ und „Auch bei der Musik müssen wir vermeiden, zuerst an Kunst oder Kunstwerk zu denken [...]“ (Jacoby 1921, S.12).

In seiner Rede über die „Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung“, die Jacoby 1921 in Berlin anlässlich der Kunsttagung des Bundes entschiedener Schulreformer hält, übt er herbe Kritik an der musikpädagogischen Praxis seiner Zeit. Gleich im ersten Satz wendet sich Jacoby gegen die „intellektualistischmechanistisch und wesentlich auf Reproduktion eingestellte Art des
Musikunterrichts“. (Jacoby 1921, S.10) An anderer Stelle hören wir, der Musikunterricht sei nichts anderes „[...] als mehr oder weniger geschickte Abrichtung [...]“ (Jacoby 1921, S.18) und habe für die allgemeine Menschenbildung keine Bedeutung. Damit eine schöpferische Erziehung
überhaupt wirksam werden könne, müsse sich, so Jacoby, die „Auffassung des Wesens der Musik und daraus folgend von den Aufgaben unseres Musiklebens“ (Jacoby 1921, S.11) von Grund auf ändern. Musik als Kunst und der Kunstbetrieb dürften nicht mehr im Vordergrund des Interesses stehen.

Im nächsten Beitrag folgt (3) Kritik durch Martin Buber

Literaturnachweis:

Jacoby, Heinrich (1921) Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung. Rede anlässlich der Kunsttagung des Bundes entschiedener Schulreformer in Berlin am 5. Mai 1921. In: Ludwig, Sophie (Hg.) (1984) Heinrich Jacoby. Jenseits von „Musikalisch“ und „Unmusikalisch“. Die Befreiung der schöpferischen Kräfte
dargestellt am Beispiele der Musik. Hamburg, S. 10-28.


Jacoby, Heinrich (1924) Jenseits von „Musikalisch“ und „Unmusikalisch“. Voraussetzungen und Grundlagen einer lebendigen Musikkultur. Mitgeteilt auf dem II. Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft in Berlin im Oktober 1924. In: Ludwig, Sophie (Hg.) (1984) Heinrich Jacoby. Jenseits von „Musikalisch“ und „Unmusikalisch“. Die Befreiung der schöpferischen Kräfte dargestellt am Beispiele der Musik. Hamburg, S. 29-74.

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