Samstag, 21. Februar 2009

Gegen imperialistische Nostalgie zum Fasching

Gastbeitrag von S.D.

Noah Sow spricht sich in ihrem 2008 erschienenen Buch Deutschland.Schwarz.Weiß. Der alltägliche Rassimus gegen die Bezeichnung von Menschen durch rassifizierende Begriffe aus. Als Beispiel nennt sie die Fremdbezeichnung, die Kolumbus prägte für die Einwohner Amerikas. Als weiße benutzte ich diesen Begriff seit meiner Kindheit unhinterfragt obwohl es an Eigenbezeichnungen, wie Native Americans, Indígenas und First Nation People nicht mangelt.
Ich weiß sehr wenig über die Kulturen und die Geschichte der Native Americans, Indígenas und First Nation People. Über den Genozid in Amerika las ich erst jetzt, im Alter von 24 Jahren, in dem Buch Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis, geschrieben von der Kolumbianerin Rosa Amelia Plumelle-Uribe. Über das Ausmaß des Völkermords schreibt sie, dass um 1500 ca. 80 Millionen Menschen in Amerika lebten. Innerhalb der nächsten 50 Jahre brachten die Europäer 70 Millionen (!) Menschen um. Die Brutalität der Europäer, die Rosa Amelia Plumell-Uribe in ihrem Buch beschreibt, macht mich sehr traurig und ich lege das Buch sehr oft beiseite. Ich kann verstehen, dass ich als Jugendliche lieber James Fenimore Coopers Roman Der letzte Mohikaner gelesen habe, denn der brutale Genozid an den Mohikanern und der daraus resultierende Schmerz des „letzten Mohikaners“ werden dort nicht thematisiert. Der oft gehörte Spruch „I. kennen keinen Schmerz“ erscheint mir mit diesem Hintergrundwissen der Gewissenserleichterung der weißen zu dienen. Für mich, als weiße, ist das Trauma der Überlebenden und ihrer Nachfahren nicht vorstellbar. Bis heute und seit mehr als 400 Jahren zerstören und unterdrücken die Europäer_innen Kultur, Religion und Sprache der Natives. Von ihren Widerstandsbewegungen ist mir kaum etwas bekannt.
Schon als Kind lernte ich, dass ich mich als weiße der kulturellen Symbole anderer Kulturen respektlos bedienen kann. Dass diese Kulturen von meinen weißen Vorfahren zerstört wurden, erzählte mir niemand. Ich, aus der Position des Elternteils, finde es makaber unseren Kindern die traditionelle Kleidung einer Kultur (die es auf Grund eines Genozids für den weiße die Verantwortung tragen so nicht mehr gibt) als ein Kostüm zum Fasching anzuziehen. Kulturen und Religionen sind für mich keine Faschingskostüme. Wir verkleiden unsere Kinder nicht als Jude/Jüdin oder Weiße_r. So gibt es aber das Kostüm mit dem Federkopfschmuck. Es gibt dazu jede Menge weiße Fantasien. So erzählte mir ein ein weißer Vater, dass dieses Kostüm und die damit verbundenen Menschen für ihn Naturnähe und Vorindustrialität darstellen. Mir wurde bewusst, dass auch ich dieses Bild in mir trage. Das heißt, dass ich mich selbst als zivilisiert und modern betrachte.
Ich denke, um eine Nähe zur Natur herzustellen, ist es unbegründet mich als Vertreter einer anderen Kultur zu verkleiden. People of Color in die Nähe der Natur zu setzen hat eine lange europäische Tradition. Ich erinnere mich dabei an die Rassetheorien der Aufklärung, die weiße Menschen als überlegen propagierten und mit diesen Theorien rassistische Gewalt legitimierten. Die Kultur der Natives als vorindustriell zu imaginieren, bedeutet ihre gegenwärtige Präsenz zu verleugnen. Die Romantisierung der Kultur der Natives ist eine Nostalgie und ich bezeichne es mit den Worten von bell hooks als imperialistische Nostalgie, weil es eine Sehnsucht von uns weißen ist nach einer Kultur und Lebensweise, die wir zerstört haben und zerstören.
Renato Rosaldo (von bell hooks in black looks. Popkultur - Medien - Rassismus zitiert) beschreibt imperialistische Nostalgie wie folgt:

Eine Person tötet jemanden und beweint dann das Opfer. In abgemilderter Form: Irgend jemand verändert gezielt eine Lebensform und bedauert dann, daß die Dinge nicht so geblieben sind, wie sie vor dem Eingriff waren. Noch eine Stufe weiter zerstören Menschen ihre Umwelt und beten dann die Natur an.In jeder Variation gibt sich die imperialistische Nostalgie als „unschuldige Sehnsucht“ aus, zum einen, um die Fantasie der Menschen an sich zu binden, zum anderen, um ihre Mittäterschaft an der oft brutalen Beherrschung zu kaschieren.



Mein herzlicher Dank der Autorin dieses Artikels, den ich als Gastbeitrag hier einstellen darf. R. Sumpff.

Mittwoch, 4. Februar 2009

Emanzipation im Kinderbuch

Anmerkung: Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden nur die männliche Form von Musikerinnen verwendet. Gemeint sind dabei immer beide Geschlechter.

Das Kinderbuch von Jens Rassmus kommt ohne eine solche Anmerkung aus. Dort gibt es Musikerinnen und Musiker. Beides eben, wie Madame Coco mit dem aufblasbaren Piano erinnert. Eine nach dem anderen fällt auf den Mond. Jens Rassmus vergisst keines der beiden Geschlechter. In Wort und Bild sind sie da. Riesengroß und kleiner als ein Kaninchen; mit tellerrunden Ohren, mit spitzen Ohren; umfangreich oder schmal, außerirdisch anzusehen oder tierisch menschlich; alles ist vertreten; Frau und Mann. Den meisten sehe ich ihr Geschlecht an. Vielleicht ist solche Zuschreibung nicht in Ordnung. Aber ich kenne mich. Wenn der Monddrache mit den Lockenwicklern im Haar, für den das Buch keine weibliche Form aufzubieten vermag, mich heute Nacht korrigieren würde, er sei ein Mann, keine Frau, dann würde ich es mit einem Achselzucken aufnehmen. Allerdings müsste ich den nächlichen Besuch erst mal sacken lassen. Keine stellt sich einem Drachen so mutig gegenüber wie Anna.
Frauenemanzipation als kleines Seitenthema scheint mir bemerkenswert in einem Kinderbuch. Was mich aber als Kind von Eltern mehr noch anspricht und das Lesen so befreiend macht, ist die Emanzipation des Kindes.

Anna leistet Widerstand.

Was anderes als Widerstand ist es, wenn Anna sich auf den Kopf stellt. Querstellen. Befehlsverweigerung. Annas Mutter hatte der Tochter befohlen, ins Bett zu gehen. Es ist nur all zu üblich, Kinder ins Bett zu schicken, auch wenn sie kein bisschen müde sind.
Wer meint, ich interpretiere Annas Kopfstand zu frei und es bleibe offen, wo sich Jens Rassmus mit seiner Meinung zum Thema Erziehen befindet, dem gebe ich Recht. Nur zwei Dinge sind klar: Der Autor setzt Annas Eltern in ein denkbar schlechtes Licht, und das mit Worten und Bildern. Und zweifellos verbringt Anna eine aufregendere Nacht auf dem Mond als ihre Eltern beim Zappen vorm Fernseher. Sie wird von den Musikerinnen und Musikern des Vollmondorchesters für voll genommen. Die laden sie zum Mitmachen ein, auch wenn Anna kein Instrument spielt. Und auf dem Höhepunkt der Geschichte stellt es sich als Glück heraus, dass Anna mit von der Partie ist.

Das Buch dieser Buchbesprechung:
Jens Rassmus (1999) Das Vollmondorchester. Aarau, Frankfurt am Main und Salzburg.

Abbildung bei bibliothek der provinz

Dienstag, 3. Februar 2009

Menschenrecht auf Bildung

in Anlehnung an eine Presseerklärung des Flüchtlingsrats Berlin, Link steht unten

In Berlin will der Senat eine Schülerdatei anlegen, in der alle Berliner Schüler_innen erfasst und mit einer landeseinheitlichen Schülernummer versehen werden. Die Datenerhebung beginnt für die Kinder bereits, wenn sie noch nicht schulpflichtig sind. Der Datensatz wird aus 16 personenbezogenen Daten bestehen; neben Name und Geburtstag des Kindes und Anschrift und Telefonnummer der Eltern unter anderem auch Angaben zu nichtdeutscher Herkunftssprache, zu Behinderungen des Kindes und zu außerunterrichtlicher Förderung und Betreuung. Im Verlauf werden in der Datei Verstöße gegen die Schulpflicht registriert.

Die Schülerdatei wird bei der Senatsverwaltung für Schulwesen geführt und gewährt unter anderem Strafverfolgungs- und Polizeibehörden sowie Jugend- und Gesundheitsämtern den Zugriff auf die Daten.

Justizsenatorin von der Aue sagte in einer Presseerklärung vom 17.04.08:
"Diese Schülerdatei ist eines der wichtigsten Mittel, um effektiv gegen Schulschwänzer und junge
Straftäter vorzugehen. Wir können nicht länger darauf warten."

Nicht nur Leute, denen die Abschaffung der Schulpflicht am Herzen liegt, lehnen die Schülerdatei ab. Auch der Flüchtlingsrat Berlin fordert ein Verbot solcher Datenübermittlung, denn er sieht durch die Datei das Menschenrecht auf Bildung für Kinder ohne Aufenthaltsstatus in Gefahr.

Noch soll in Berlin der Aufenthaltsstatus in der Schülerdatei nicht erfasst werden und die Ausländerbehörde keinen Zugriff erhalten. Der indirekte Zugriff auf die Schülerdatei aber ist der Ausländerbehörde möglich, indem sie die Polizei als Ermittlungsbehörde hinzuzieht, sowie vorhandene Dateien und Datenübermittlungsmöglichkeiten.

Durch die neue Datei, im Zusammenwirken mit vorhandenen Dateien wie dem Melderegister und dem Ausländerzentralregister sowie Gesetzen wie dem Aufenthaltsgesetz und dem Berliner Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz, werden die Möglichkeiten der Polizei erheblich erweitert, gegen Kinder ohne legalen Aufenthaltstitel und ihre Eltern zu ermitteln. Auch wird dadurch ggf. die Festnahme der Kinder in der Schule, zwecks Abschiebehaft und Abschiebung erleichtert. Die Ausländerbehörde kann zwar nicht dirket auf die Datei zugreifen, die in ihrem Auftrag wegen illegalen Aufenthalts ermittelnden und Abschiebemaßnahmen und -haft auch vollziehenden Polizeibehörden jedoch sehr wohl.

Bisher haben in Berlin Kinder ohne legalen Status nur in Ausnahmefällen eine Schule besucht. Auf Seiten der Schulen herrscht Unklarheit darüber, ob und wieweit sich Schule und Lehrer_innen strafbar machen, wenn sie wissentlich Kinder ohne legalen Aufenthaltstitel unterrichten, oder welche versicherungsrechtlichen Folgen ein Schulbesuch haben kann, abgesehen davon, dass das aufgenommene Kind eigentlich bei der Zuweisung von Mitteln an die Schule berücksichtigt werden müsste. Der Flüchtlingsrat Berlin rät im Hinblick auf die Schülerdatei Kindern vom Schulbesuch ab, die keinen legalen Aufenthaltstitel inne haben oder denen akut eine Aufenthaltsbeendung droht. Das Recht eines Kindes auf Bildung hängt, so das Gesetz zur Schülerdatei vom Senat beschlossen wird, in Berlin vom Aufenthaltstitel ab.


weiterführende Links zu diesem Thema:

Flüchtlingsrat Berlin: Forderung eines Verbots der Datenübermittlung
Bündnis gegen Schülerdatei: Stellungnahme
Migrationsrecht.net: Neue Schülerdatei -Hamburg späht Schüler aus

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