Samstag, 28. August 2010

Mutprobe

Wenn es nach dem Ferienwetter regnerischer und kühler wird, wechselt man zu den Jacken vom vergangenen Herbst. In den Jackentaschen findet sich manchmal noch ein Taschentuch mit Rotz und vielleicht auch ein paar Tränen von vor einem Jahr. Eine solche Jacke mit Taschentuch musste es sein, damit ich mich auf den Weg machen konnte.
Eigentlich hätte ich vorher wissen können, dass ich keinem echten Wildschwein begegnen würde, weil es ja nur eine Mutprobe war. Bei Mutproben handelt es sich nie um den Ernstfall. Der Proband soll nur etwas eingeschüchtert werden.
Zum Beispiel durch die Dunkelheit. Unten auf meinem Weg hüllte sie mich vollkommen ein. Oben schien der Himmel durch die Baumkronen. Ich schaute hinauf, um mich zu orientieren. Den Weg spürte ich unter meinen Füßen, aber sehen konnte ich ihn nicht. Öfter spähte ich dann doch in die Dunkelheit. Ich sah optische Täuschungen, Vorspiegelungen meines eigenen Auges, graue Flecken im Schwarz. Was soll man schon sehen, wenn es wirklich ganz duster ist. Der helle Himmel konnte hier unten nichts ausrichten. Ich befürchtete, jeden Moment über ein Wildschwein zu stolpern. Wildschweine sind nicht riesig, sie gehen mir vielleicht bis zum Brustbein. Das Schlimme ist, sie sind kompakt, sie sind stabil, sie fallen nicht einfach um, sie fliegen nicht fort und sie gehören, wie Ferkel zu Puh sagen würde, wohl eher zu den wilderen Tieren. Sie könnten auf die Idee kommen zu kämpfen, wenn man sie verärgert.
Genug über Wildschweine! Ich wusste noch, wo ich am Tage ihre Spuren gesehen hatte: durchwühlter Boden. Ich lauschte. Der Regen machte ein ständiges Geräusch. Der Regen in den Bäumen. Unter freiem Himmel regnete es nicht mehr, in den Bäumen regnet es gewissermaßen noch viel länger. Ich bekam einen einzigen Tropfen auf die Kapuze, alle anderen Tropfen hörte ich nur. Würde ich die Wildschweine bei all dem Lärm wühlen hören? Wühlten sie laut oder leise? Atmeten sie laut?
Ich war auf einem Wegstück angelangt, das man beim besten Willen nicht mehr sehen konnte. Nichtmal anhand des Himmels über den Baumkronen. Die Kronen waren viel zu dicht. Sie hatten über dem Weg nicht mehr Raum als anderswo. Wie hätte ein Katzenauge hier genug Licht sammeln können, um zu leuchten? Welches Licht, wenn es keins gibt?
Der ganze Weg voller Fragen. Ich dachte, wenn ich Angst habe - und die hatte ich -, dann bin ich wenigstens nicht allein. Ich wünschte mir, die Tiere würden rechtzeitig vor mir verschwinden und mich auf ihrer Flucht nicht erschrecken. Ich hoffte, sie könnten mich hören. Ich hörte mich selbst nicht. Meine Schritte verursachten so wenig Geräusch wie auf einem Samtteppich. Kein Zweig knackte unter ihnen. Einmal stieß ich gegen Blätter. Selbst das spürte ich mehr, als dass ich es hörte. Die Blätter trieften vor Nässe, dazu das Tropfen in den Bäumen, ich wusste von der Wanderung am Tage Pfützen vor mir auf dem Weg - hoffentlich waren sie nicht größer geworden! Statt Gummistiefel trug ich Halbschuhe, mit denen es sich besser wegrennen lässt. Vielleicht gab es sogar schon den ersten Anlass zum Flüchten. Links von Geradeaus im Dunkeln leuchtete ein Punkt. Weil ich ging, änderte sich meine Perspektive und Pflanzen verbargen den Punkt vor mir. Ich konnte aber mehrmals feststellen, dass er sich nicht bewegt hatte, immer noch da war, immer noch leuchtete. Vielleicht sah ich in ein Tierauge und das Tierauge sah mich. Ich weiß, wie reglos Rehe stehen können als Alternative zur Flucht. Können Rehaugen auch leuchten? Dann sah ich zur Rechten auf dem Boden ein vertrautes Glimmen und weiter weg noch eins und noch eins. Die Glühwürmchen - in meiner Kindheit sind sie durch die Luft geflogen, hier sah ich sie nur am Boden. Es sei denn, das Rehauge ...
So ein Glühwürmchenkörper kann richtig etwas beleuchten. Um ihn sah ich das Buchenlaub. Es glänzte feucht. Seine Farbe ergänzte ich in meinem Kopf, denn wenn ich mich jetzt daran erinnere, dann fällt sie mir ein, aber nicht, dass ich sie gesehen hätte.
Wie in einer Geisterbahn zog ich an den Attraktionen links und rechts des erahnten Weges vorbei. Da kam schon die nächste. Sie ließ mich zweifeln, was ich sah. Es schien mir, da gab es einen Abgrund, der aus sich heraus leuchtete. Ich sah den Weg nicht, aber den Abgrund. Wieso leuchtete er, andererseits war gerade das mein Glück, meine Chance, nicht hineinzufallen. Ich wusste noch von der Tagestour, dass es links meines Weges recht steil in die Tiefe ging. Schwarze, feuchte Erde, Schlammlöcher, Sumpf. Erdinseln, die auf Wasser schwimmen, das erst hervorttritt, wenn ein Fuß die Insel beschwert.
Ich sah meinen Weg nicht und ich fühlte mit den Füßen kaum, ob ich auf matschigem Weggrund wandelte oder schon in den Wald zu meiner Rechten eingetaucht war. Es blieb der Blick nach oben, ob ich da den Himmel sehen würde und an den Baumkronen, die sich schwarz davon abheben, den Verlauf des Weges ausmachen könnte. Mit diesem Blick ging mir meine Täuschung auf. Der Abgrund zu meiner Linken war so tief, wie die Baumkronen hoch waren, und vom Grunde leuchtete mir der Himmel entgegen. Es war eine Spiegelung! Ich hatte die Pfützen erreicht, die ich bei Tage gesehen hatte.
Mit jeder bestandenen Gefahr wurde mir der Weg leichter. Er wurde auch breiter und bekam zumindest zur Linken eine eindeutige, sichtbare Begrenzung. Ich musste mich nur rechts von den dicken Baumstämmen halten. Wenn ich leicht nach oben blickte, sah ich sie. Der Weg führte von hier ab eine Weile geradeaus. Es regnete in den Bäumen, ich lief und der Weg ging vorwärts, bis ich ihn verlor. Ich spürte ihn nicht mehr unter meinen Füßen. Ich lief auf Laub. Ein Versuch, weiter links zu gehen, stieß mich an Blätter und Zweige, der Versuch weiter rechts sagte mir nur: Laub, Laub, Laub, du bist mitten im Wald. Da lag auch wieder ein Glühwürmchen. Hätte mir jetzt einer im Dunkeln noch die Augen verbunden und mich gedreht, ich hätte mich erst wieder in der Morgendämmerung zurechtgefunden. So aber, der Annahme folgen könnend, dass ich doch die ganze Zeit nur geradeaus gegangen war, wagte ich es, mich um 180° zu drehen. Wo vorher mein Nabel hinzeigte, befand sich jetzt mein Rückgrat, und die Nasenspitze richtete sich auf das, was vorher hinter mir gewesen war. Nach wenigen Schritten traf ich auf den Weg, der an jener Stelle eine Linkskurve beschrieb. 90°. Das hatte ich nicht sehen können.
Noch ein Stück auf festem Boden und mit den Augen durchs Ungewisse, dann sah ich den Mond. Er war eine richtige Lampe. Er hatte die ganze Zeit meinen Himmel hell gemacht, das war er. Um eine solche Kleinigkeit wie den Mond hatte ich mich beim Entschluss zu der Mutprobe noch gar nicht gekümmert. Nun gab es ihn und er machte mir den weiteren Weg wirklich angenehmer. Knappe zwei Kilometer Rückweg ohne Angst, mir nichts dir nichts ein Schwein zu überrennen. Der Mond machte schöne Wolken sichtbar und weißen, hohen Nebel über der Wiese. Er überstrahlte nicht die Sterne und nicht die Flugzeuge, die mir anzeigten, dass es eine Zivilisation noch gab. Ich konnte so viel sehen, dass ich sogar noch einen Umweg an einer Wiese entlang wählte. Geheimnisvoll in den Schatten der Bäume gehüllt standen die Pferde nebeneinander. Eines scheute vor mir, dabei war ich ihm gar nicht nahe gekommen.
In der Wiese leuchtete das Mondlicht durch unzählige Wassertropfen und im Taschentuch aus der rechten Jackentasche war noch Platz für etwas Rotz. Wahrscheinlich habe ich die Mutprobe ja bestanden, könnte nur noch sein, dass ich bei der Schriftlichen heute durchgefallen bin.

Mittwoch, 4. August 2010

In der Erde

A u f der Erde leben, ist gängiger Sprachgebrauch. In der Erde leben nur Maulwürfe und Würmer und Engerlinge. Spreche ich aber von der Erde als Planet, so ist es möglich, auch diejenigen als innendrinnen zu begreifen, die auf den Kontinentalplatten und den Meeren leben. Am Grunde der Atmosphäre.
"Wir sind Menschen in einem Planeten.", sagt Johannes Heimrath (Herausgeber, Art Director der Zeitschrift Oya) zu Beginn eines
Gespräches über Gemeingüter. (Lasst uns die Spielregeln ändern) Nebenbei: Das ganze Gespräch ist interessant. Speziell auf die Sichtweise, ob Menschen auf oder in ihrem Planeten leben, geht Johannes Heimrath in der Minute 12:20 des Videomitschnitts ein.
Er beschreibt es als Schlüsselerlebnis, einmal bei David Abram (Von Gaia umfangen) gelesen zu haben, wir würden in der Erde leben, unter der ganzen vielen Luft, deren Druck wir nur nicht merken, weil wir "dafür gebaut" sind, etwa 100km tief in der Atmosphäre (gerechnet von der Kármán-Linie) zu leben. Es ist für mich ein fühlbarer Unterschied, ob ich mich an der Oberfläche von der Welt begreife, die mich nährt und schützt, oder in ihr drinnen.

Mit dem Gedanken, im Innern zu sein und auf dem Grund des Luftozeans (Johannes Heimrath), habe ich neulich mal wieder zur Oberfläche aufgesehen. Natürlich sah ich nur eine bewegte Atmosphäre. Die Kármán-Linie konnte ich nicht ausmachen und mal eben aus meinem Element springen wie ein Fisch aus dem Wasser wollte ich nicht.

link zu David Abrams Aufsatz Von Gaia umfangen. Wie die Gaia-Hypothese unsere Wahrnehmung verändert.
Eine Nachfrage an die Macher von Oya zu David Abram hat mich zu dem Aufsatz und der Gaia-Hypothese geführt. Die Hypothese ist nicht Grundlage meines Blogeintrags. Indem ich den Link setze, stimme ich der Hypothese nicht automatisch zu. Sie ist für mich ganz neu und etwas, was mich interessiert. Meinungen zu der Hypothese lese ich gerne in den Kommentaren.