Samstag, 19. Januar 2013

Gehorsamkeit

Buchempfehlung für
Ella, verzaubert von Gail Carson Levine

Eines Tages, sehr früh schon in meiner Entwicklung, habe ich beschlossen, gehorsam zu sein. Auch wenn es mir Probleme machte, zu gehorchen, so schien mir Gehorsam doch immer noch die naheliegende Lösung.

Zu Beginn ihres Lebens erhält Ella die guten Wünsche ihrer Feen. Sie möge ein gehorsames Kind sein. Als ich frisch eingeschult war, hätte ich gefunden, dass dies ein weiser Wunsch war. Den gehorsamen Kindern ging es besser. Die ungehorsamen kassierten schlechte Noten in Betragen und Fleiß, die ungehorsamen mussten Strafe fürchten. Die Erwachsenen liebten sie nicht.

Ellas Mutter ist eine Frau, die weiß, was sich gehört. Und sie rutscht Treppengeländer. Sie liebt ihre Tochter und rät ihr, niemandem von dem Fluch zu erzählen. Von dem Fluch, jedem Befehl Gehorsam leisten zu müssen.

Lange gehorchte ich den Erwachsenen mit ganzem Herzen und nahm ihre Märchen für bar. Auch wenn ich wusste, dass Knecht Ruprecht nicht kommt, glaubte ich doch an die Moral: der Böse würde die Strafe davontragen, er würde keinen frohen Tag beschert bekommen, sondern beschämt vor aller Welt stehen in Unterhosen und Hemd und tropfnassen Haaren.

Statt Ella wurde mir der Struwelpeter vorgestellt. Hätte ich Ella kennengelernt, hätte ich sie überhaupt verstanden? Hätte ich kapiert, dass ich den Ungehorsam brauchte? Dass nur er mich retten konnte? Musste ich gerettet werden? Brauchten nicht vielmehr die Ungehorsamen Rettung?

Ella erfindet Tricks, die an sie gerichteten Befehle zu unterlaufen. Ist ein Befehl nicht präzise genug, so kann seine Ausführung der Absicht des Befehlenden ganz schön zuwider laufen.
In mir übernahm der Widersetzergeist erst sehr spät in meinem Leben so manche Situation und Lebenslage. Und dann auch nur, weil der gehorsame Geist trotzte (sic!). Ich hatte noch nicht vergegenwärtigt, welch existenzielle Bedeutung der Widerspruch für mich haben sollte. Mit dem Gehorsam hatte ich mich unsichtbar gemacht. Wenn ich mich zuweilen widersetzte, so wollte ich doch unsichtbar bleiben. Ella dagegen zeigt, dass sie nicht gewillt ist, einem Befehl willenlos Folge zu leisten. Sie zeigt sich. Ich habe mich entzogen - mich meinen Erziehern entzogen sowie mir selbst. Indem ich gehorchte, habe ich verlernt, wonach mir eigentlich der Sinn stand. Eigene Entscheidungen gab es wenige. Mein Willen zählte vor mir selbst nicht mehr viel.

Die Fee zu finden, die ihren Wunsch zurücknehmen kann, zieht Ella in die Welt. Die Welt ist gefährlich, doch so ein Fluch ist es nicht weniger, und ich weiß nicht, was aus Ella geworden ist, denn ich habe das Buch noch nicht zu Ende gelesen. Vorher will ich es Ella gleich tun.

Gail Carson Levine (1999) Ella, verzaubert. München